Verfasst von: Eva | 16/10/2009

Hochsensibel oder AD(H)S?

blumen

ADS, ADHS und Hochsensibilität lassen sich für mich nicht trennen. Die Unterscheidung erscheint mir willkürlich. Ich sehe in ADHS keine „Krankheit“, die sich von Hochsensibilität strikt unterscheiden lässt, auch wenn es so dargestellt wird. Ich halte es eher für zwei Namen desselben von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet.

Es handelt sich doch bei beiden um ein von der Norm abweichendes Verhalten, das sehr viele Parallelen aufweist. Der einzig gravierende Unterschied ist, dass AD(H)S medizinisch anerkannt und bis zu einem gewissen Grade erforscht ist und Hochsensibilität nicht. Es wäre doch weit sinnvoller, nicht zwei Lager daraus zu machen, sondern die Tatsache, dass beides dasselbe sein könnte, in die Forschungen miteinzubeziehen.

Weder das Verhalten von Hochsensiblen noch das von Menschen, die auf AD(H)S diagnostiziert werden, ist nicht „ganz anders“ als das der Mehrheit, sondern es ist in etlichen Bereichen intensiver. Es kennzeichnet Überreaktionen, die von Person zu Person individuell unterschiedlich auftreten. Beides kann, muss aber nicht, auch mit Hochbegabung kombiniert sein.

Ich habe die Vermutung, dass die Teilung gerade deshalb entsteht, weil es zwei verschiedene Blickwinkel gibt. Wer sich eher mit AD(H)S identifiziert, steht vielleicht der Medizin näher und erwartet sich von ihr Linderung, wer sich eher mit Hochsensibilität identifiziert, möchte darin eher eine verfeinerte Wahrnehmung samt ihren Reaktionen darauf sehen.

ADS – also ohne Hyperaktivität – entspricht sehr stark in seinen Eigenschaften Hochsensibilität. ADHS – mit Hyperaktivität – der Bezeichnung HSS („High Sensation Seekers“), also Hochsensibilität gepaart mit einem eher extravertierten und quirlig-lebendigen Wesen.

Doch ist es nicht vollkommen egal, wie diese Eigenschaften etikettiert werden? Ob als Krankheit tituliert oder als bloße seltene Eigenschaftskombination, kommt es doch vor allem auf den Umgang damit an.

Deshalb halte ich das Buch von Eduard Schweingruber „Der sensible Mensch“ für das beste je über sensible Menschen geschriebene. Das hat vor allem den Grund, dass er keinerlei Ideologie anhängt, sondern einfach einen Menschentypus beschreibt, den man als „sensibel“ bezeichnen kann. Genau so gut könnte man ihn als „schwierig“ bezeichnen – und zwar ohne abschätzige Wertung – da es für so veranlagte Menschen einfach schwieriger ist als für weniger sensible, mit sich und dem Leben zurecht zu kommen.
Das liegt vor allem auch daran, dass die Welt nicht auf Minderheiten abgestimmt ist, sondern auf die Mehrheit.

Schweingruber stellt damit aber keine Kategorie auf und betreibt damit weder eine medizinische noch eine ideologische Einordnung. Er deutet gar nichts hinein. Er beobachtet und beschreibt seine Erfahrungen mit und Erkenntnisse über – wie er es nennt – „besonders sensible Menschen“.

Und genau das ist meines Erachtens auch die Essenz. Alles, was darüber hinaus geht, sind (noch immer) Spekulationen. Dass bei AD(H)S ein veränderter Gehirnstoffwechsel festgestellt wurde, sagt dennoch nichts darüber aus, warum das so ist. Freude, Ärger, Interesse – alles hat seine neurobiologischen Entsprechungen. Daher wird sie wohl auch hohe Sensibilität haben.

Dass es Substanzen/Medikamente gibt, die Entlastungsfunktion haben, weil sie ruhiger und stabiler machen, ist eine Errungenschaft der Medizin, die vergleichbar mit der von Antidepressiva ist. Hier wie dort wird ein Extrem abgemildert. Ich halte das für völlig legitim und auch gut, dass es diese Möglichkeit gibt, bin aber skeptisch bezüglich der breit gestreuten Verabreichung. Es bleibt jedem Einzelnen überlassen, ob, wie lange und wann er darauf zurück greifen möchte, doch sollte er immer im Auge behalten, dass auch die Pharmaindustrie und die „Medikamentgläubigkeit“ vieler Menschen dazu beitragen, diesen Umgang damit zu propagieren. Dass sich damit die zu Grunde liegenden Probleme nicht lösen lassen, sollte aber jedem klar sein, der sich sein Leben lang auf Substanzen stützen möchte.

Wer dies aber nicht oder nicht auf Dauer tun möchte, kommt nicht darum herum, Schweingrubers Rat zu beherzigen und sowohl eine gründliche Innenschau und eine sachliche Auseinandersetzung mit sich selbst zu betreiben sowie in seinem Leben bestimmte Grundregeln zu befolgen, um der Überreizung entgegen zu steuern.

Ich denke, dass ein Gutteil der späteren Schwierigkeiten erwachsener Sensibler darauf zurückgeht, dass auf ihre Eigenschaften und Eigenheiten schon in ihrer Kindheit nicht adäquat reagiert wurde. In vielen Fällen nicht aus Ignoranz oder Unwilligkeit heraus, sondern aus Unwissen – oder schlicht Überforderung ihrer Bezugspersonen.
Ist es schon schwer genug, in unserer Kultur überhaupt Kinder gut aufzuziehen, ist es noch um einiges herausfordernder, ein besonders sensibles Kind gut auf sein späteres Leben vorzubereiten.

Auch wenn wir heute in einer Welt des Individualismus leben und der Zwang zur Anpassung geringer ist als früher, ist es doch nicht einfach, ohne Orientierung und Vorbilder ein Kind aufzuziehen und zu begleiten, das nicht ins verbreitete Schema passt. Es bedeutet ja nicht nur, auf das Kind mehr Rücksicht zu nehmen, sondern es betrifft auch das eigene Leben, das es zu hinterfragen gilt. In einer hektischen Familienumgebung, wenig Zeit für die eigenen Kinder zu haben, ungelöste Konflikte zwischen den Ehepartnern, eigene Unzufriedenheit und inkonsequentes Verhalten wird es schwer möglich sein, dem Kind all das zu bieten, was es braucht. Dass ein sensibles Kind darauf im höchsten Maß reagiert – sei es mit Ängstlichkeit und Flucht in Fantasien oder starker motorischer Unruhe, könnte genau so gut als Erklärung für die Probleme dienen. Disharmonien, die robustere Naturen nicht ganz so beeinträchtigen, weil ihnen die übermäßig feine Warnehmung fehlt, lösen beim hochsensiblen Kind weit heftigere Reaktionen aus.

Eine Freundin, die nicht sehr viel reflektiert und sich kaum in philosophische Betrachtungen verstrickt, sondern eher bodenständig im Leben steht, sagte einmal, ein Vorteil sei es nicht gerade, allzu sensibel zu sein, denn in den meisten Fällen würden solche Menschen ihr Potenzial nicht leben können. Meist gingen ihnen die Eigenschaften ab, die dafür ebenfalls nötig seien – Realismus, Durchhaltevermögen, Zielstrebigkeit und das Aushalten von Frustrationen. Damit musste ich ihr Recht geben, denn selbst in künstlerischen Berufen fliegt niemand Erfolg einfach zu. Und selbst wenn, muss man damit umgehen können. Das muss man schon so sehen, wie es ist. Eine naturgegeben bei Sensiblen anzutreffende geringere Belastbarkeit verstellt nur allzu oft ihren Weg.

Daher halte ich den richtigen Umgang mit sensiblen Kindern für sehr wichtig. Damit wird die Basis für ihr weiteres Leben gelegt. Sowohl ein Ignorieren ihrer Eigenart, das in Zwangsanpassung an die Norm mündet (dazu tendieren wohl eher diejenigen, die die Problematik lieber als AD(H)S ansehen), als auch eine Überbehütung und damit Fokussierung auf ihre Sensibilität halte ich für verkehrt.

Im ersten Fall resultieren daraus Selbstzweifel, ein geringes Selbstwertgefühl und innere Einsamkeit samt vielfältigen (zwangsläufig neurotischen) Folgen, im zweiten Fall werden jene Eigenschaften noch zusätzlich verstärkt, die ohnehin schon problematisch sind und das führt zu keinem besseren Ergebnis.

Ich halte – wie auch Schweingruber das für den erwachsenen Sensiblen beschreibt – den goldenen Mittelweg für den besten. Rücksicht nehmen auf die Eigenarten und kein grobes Hinweggehen darüber – zugleich aber auch Bestätigung und Ermutigung, sich etwas zuzutrauen und kein besorgtes Fernhalten von allem, das auch nur den Hauch von Überforderung beinhalten könnte. Denn vieles verliert seinen Schrecken durch behutsames Heranführen und langsame Gewöhnung, sodass es später überhaupt kein Problem mehr darstellt.
Dies gilt im Übrigen ohnehin für alle Kinder – auf ihre Individualität sollte Rücksicht genommen werden, unerheblich ob sehr sensibel oder weniger sensibel. Das eine Kind braucht mehr Regeln, das andere weniger, das eine strebt früher nach Selbstständigkeit, das andere braucht länger liebevoll-konsequente Führung. Aber dies sollte nicht von den Anschauungen der Eltern abhängen und was sie sich allgemein zu Erziehung denken, sondern davon, wie das Kind ist. Einfach hinschauen, das Kind in seinen Eigenarten erfassen – und darauf angemessen reagieren.

Woran es hauptsächlich krankt, ist die leider oft mangelhafte Fähigkeit dazu. Alle Eltern haben eine eigene Geschichte, einen bestimmten Entwicklungsstand, ein mehr oder weniger ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und einen unterschiedlichen Wissens- und Bewusstseinsstand. Und wir leben alle in einer Gesellschaft, die nicht gerade ideale Bedingungen für ein natürliches und kindgerechtes Leben bietet.

In der Praxis wird es weiterhin alle Abstufungen von miserablen bis hin zu optimalen Bedingungen geben. Kinder, die das Glück hatten, Letzteres erlebt zu haben, werden mit Sicherheit später weit weniger Probleme mit ihrer Sensibilität haben und ihr Potenzial leichter leben können.

Insofern haben sensible Kinder auch eine gewisse Mahnfunktion in unserer Kultur. Nicht die Kinder sollten angepasst und ruhig gestellt werden, sondern wir alle sollten uns überlegen, ob unsere Lebensformen und Einstellungen nicht der Korrektur bedürfen.

Eine Gesellschaft, in der Depressionen zur Volkskrankheit geworden sind, wo Gewalt und Kriminalität stetig ansteigen, wo der Großteil ums goldene Kalb des Mammons tanzt, wird den seelischen Bedürfnissen der Menschen nicht gerecht. Es ist keine perfekte Gesellschaft, sie bedarf wie alles der Weiterentwicklung. Je mehr Einzelne das erkennen und daran mitwirken, umso mehr wird diese voranschreiten.

Die Sensiblen sind wichtig für diesen Prozess. Sie leiden zuallererst an dem, was nicht stimmt.



Antworten

  1. Dieser Text gefällt mir außergewöhnlich gut, die Verbindung von ADS zu HS und HB ist mir auch schon häufig aufgefallen, und auch die Entwicklung zu Underachievement.
    Danke für diesen link aus empfindsam.
    lg Johanna

    • Liebe Johanna,

      danke für deinen Kommentar. Wie du hier sehen kannst, befasse mich seit längerer Zeit sehr intensiv mit dem Thema und ich versuche, meine Erkenntnisse niedzuschreiben, ohne auf eine Richtung der gängigen Interpretationen einzusteigen. Denn keine davon ist wirklich bewiesen. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass sich all diese Erscheinungen nicht voneinander abgrenzen lassen und im Grunde niemand noch weiß, was wie zustande kommt. Hochbegabung möchte ich ein wenig davon ausnehmen, denn sie tritt nicht immer auf, aber AD(H)S und Hochsensibilität sind für mich nur verschiedene Synomye für ein- und dasselbe. Vielleicht – oder sogar wahrscheinlich – werden zukünftige Forschungen auf die Hintergründe stoßen, aber auf dem derzeitigen Stand ist für mich nur der Ist-Zustand klar. Und welchen Namen man dem Kind gibt, liegt wohl eher in der Weltanschauung begründet.

      Liebe Grüße
      Eva

  2. Hallo, ich möchte Bravo rufen ob diesem Artikel, wie wohl ich die ganze Seite mit ihren Themen und der schönen Gestaltung ganz herverragend finde.
    Ich halte mich für selbst betroffen, in einem etwas merkwürdigem ADHS-Test bei sog. Spezialisten fiel ich jedoch durch. Mir fehlte wohl der rechte Glaube und ich ließ kein Gehorsam erkennen…Ich denke aber, gut so. Niemand braucht das Label ADHS wirklich, selbst die Spezies wissen dieses nicht richtig zu händeln…O-Ton eines Fachmanns auf die Frage, gibt es ADHS: „Wir wissen es nicht, es kann sein, das wir in ein paar Jahren bessere Erkentnisse, einen anderen Namen dafür haben“. Bisher scheint es lediglich ein Projektname zu sein, es fehlt der ganzheitliche Ansatz. Nun, diesen kann man hier finden. Vielen Dank dafür.
    Ich persönlich würde das alles viel zugespitzter formulieren, mein Ansatz wäre, wem nützt diese Taktik? Ohnehin erreichen uns wöchentlich neue und neueste Erkentnisse aus Wissenschaft und Forschung, alles ist wohl wirklich eine Frage der Weltanschauung und handfester wirtschaftlicher und Machtinteressen. Für empfindsame Menschen, so erlebe ich es, ist die Luft sehr dünn.
    Nun denn, diese Seite soll mein Begleiter sein, so viele Anregungen hier werde ich zu nutzen verstehen. Merci

  3. Lieber Tom,

    Ich habe viel über AD(H)S gelesen, gehört, was andere darüber erzählen und ich habe mich auch mit Hochsensibilität und Hochbegabung beschäftigt.

    Und bin zu dem Schluss gekommen, dass man das alles nicht klar trennen kann. Nicht zuletzt bin ich deshalb dazu gekommen, weil ich selber auch davon betroffen bin.

    Und daraus ergibt sich einfach für mich, dass man diese Schablone nicht so ohne weiteres anlegen kann. Obwohl ich wissenschaftlicher Forschung gegenüber diversen Mutmaßungen normalerweise den Vorzug gebe, finde ich doch, dass manches auch in der Wissenschaft zu einseitig betrachtet wird.

    Dopamin-Mangel bewirkt, dass … ist ja die gängige Erklärung für AD(H)S.
    Wer weiß aber schon, ob nicht etwas Inneres bewirkt, dass Dopamin zu wenig ausgeschüttet wird? Vieles daran ist noch zu spekulativ.

    Egal, wie auch immer. Ich bin und bleibe skeptisch bei diversen „Überzeugungen“, weil es eben nur Überzeugungen sind und keine Wahrheiten.

    LG
    Eva


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